Jugendliche nutzen TikTok als Suchmaschinen-Ersatz

Veröffentlich am 21. Mai 2025

Glauben Sie, dass ein 43-Sekunden-Clip einen Ereignisbericht oder gar die Tagesschau ersetzen kann? Intuitiv würden wohl die meisten Menschen finden, dass sowas nicht wirklich funktionieren kann. Und doch ist es so. Nur 43 Sekunden: So kurz war 2024 das durchschnittliche TikTok-Video. Gleichwohl läuft die aus China stammende Plattform besonders unter jüngeren Menschen Google den Rang als wichtigste Suchmaschine ab.

Genau das hören wir regelmäßig von Lehrkräften und auch von Schülerinnen und Schülern selbst. Wenn Inhalte gesucht werden, aktivieren immer mehr Jugendliche die einst mit Tanzvideos populär gewordene App. Google ist nur mehr die zweite oder dritte Option.

Jenseits solch anekdotischer Impressionen ist dieses Phänomen, das auch als „Social Search“ bezeichnet wird, vor allem in englischsprachigen Regionen bekannt. In Deutschland hingegen ist die Verwendung von Social Media als Suchmaschinen-Ersatz für Medien- und Medienanalysen unentdeckt. Die Datenlage jedenfalls ist dünn.

Die nach unserer Recherche bislang einzige größere Studie wurde kürzlich von Lönneker & Imdahl rheingold salon im Auftrag des Industrieverbands Körperpflege- und Waschmittel e. V. (IKW) durchgeführt und trägt den Titel „TikTok ungeschminkt“. Dabei wurden 789 Jugendliche zu ihrem Nutzungsverhalten auf TikTok befragt. 43 Prozent gaben dabei an, TikTok als Suchmaschine zu nutzen; 34 Prozent bestätigen, dass sie sich mit dieser App auch über aktuelles Geschehen informieren.

Rund jeder Dritte (35 Prozent) glaubt, mit TikTok „schneller als anderswo prüfen zu können, was wahr ist“. Diese Jugendlichen halten TikTok dann auch für „glaubwürdiger als andere Social-Media-Plattformen“.

Bedenklich ist die ebenfalls in der Studie herausgearbeitete Neigung junger Menschen, die Videoangebote auf TikTok als eine Art Tagtraum zu konsumieren und sich rauschhaft von den Inhalten „wegbeamen“ zu lassen. Knapp jeder Zweite (46 Prozent) kann sich auch nicht daran erinnern, was er oder sie auf der Plattform gesehen hat. Dieser unkritische Videokonsum bewirkt, dass Desinformationen unreflektiert konsumiert und vermutlich auch geglaubt werden.

Hier zeigt sich das eigentliche Problem. Zwar benutzen viele junge Menschen TikTok in erster Linie, um nach Produkten, Eventempfehlungen oder Erklärvideos zu suchen. Doch wenn TikTok als primäre Suchmaschine benutzt wird, ist anzunehmen, dass die zahllosen Kurzvideos die Hauptquelle für News über das aktuelle Geschehen in der Welt sind. In der Studie waren es 29 Prozent, die ihr Interesse an „Politik & Nachrichten“ als Grund für deren TikTok-Nutzung nannten.

Wir haben mit einem für diesen Test eingerichteten TikTok-Account stichprobenartig ausprobiert, welche News in Sekundenschnelle präsentiert werden. Bei den verschiedenen Testthemen hat uns interessiert, wie lange es dauert, bis wir auf Desinformationen stoßen (Spoiler: nicht lange). Anschließend haben wir – nachdem der Algorithmus erfasst hat, welche Inhalte uns interessieren – weiter gescrollt, um zu sehen, was uns „ungefragt“ angezeigt wird.

 

Beispiel 1: Ukraine Konflikt

Mit dem Suchbegriff „Ukraine Aktuell“ stoßen wir sofort auf das Video eines Mannes, der nach eigener Aussage im September 2024 in der Ukraine unterwegs ist und zeigt, dass dort das „normale Leben“ weitergehe. Daraus wird die Botschaft gestrickt, Ukrainer bräuchten doch gar nicht nach Deutschland zu fliehen und unsere Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Dass in der Ukraine ein Vernichtungskrieg tobt, dass Frauen und Kinder sterben, verschweigt dieses Video.

Ein weiteres Video zeigt angeblich eine Szene aus der Westukraine (Es wird keinerlei Quelle angegeben, woher oder von wann das Video ist). Menschen mit erhobenen Armen stehen in einem Saal und zeigen den „Drei-Finger-Gruß“, der als Ausdruck des Widerstandes gilt. Das Video suggeriert, die Szene erinnere an Nazi Deutschland.

Ein User namens „DerNemez“ kündigt an, dass es nun Krieg zwischen Russland und der EU geben werde. Seine Hauptbotschaft: Die Deutschen mischen sich in etwas ein, was sie gar nichts angeht. Die größte Gefahr für Deutschland sei nicht „Rechts oder Klimawandel“, sondern unser Verhalten gegenüber Russland, das gar keinen Konflikt wolle.

Bildquelle: TikTok | @Elarta

 

Beispiel 2: Heilung von Krebserkrankungen

Hier nutzen wir das Stichwort: „Heilung für Krebs“.

Das allererste Video spricht von der „Thermoablation“, bei der mit Hitze Tumore behandelt werden. Dies sei deutlich weniger belastend als die klassische Chemotherapie. Das mag so weit richtig sein, doch die Inszenierung präsentiert diese Beurteilung, als sei sie Geheimwissen.

Das zweite Video zeigt ein Interview mit einem vermeintlichen „Experten“. Der spricht darüber, dass schulmedizinische Behandlung von Krebs fehlgeleitet sei. Man vergesse zu fragen, woher der Krebs eigentlich kommt. Sein „Institut“ arbeite mit Ernährungsumstellung und Entgiftung und rette Patienten.

Wichtig: Bei diesem Thema wird uns ein Link zu Wikipedia direkt von TikTok eingespielt – Allerdings verarbeitet TikTok Suchanfragen wie „Heilung Krebs“, was Lexika wie Wikipedia nicht können. TikTok gibt die Antwort, bei Wikipedia seien keine Artikel zum Thema gefunden worden.

Bildquelle: TikTok | @mister_bavi

Beispiel 3: Klimawandel

Mit dem Stichwort „Klimawandel Wahrheit“ ist bereits das erste Video mit „Die Wahrheit über die CO2 Lüge“ betitelt. Der menschengemachte Klimawandelt wird geleugnet. Im nächsten Video ebenso. Das dritte Video zeigt ein Interview, in dem ein angeblicher Experte mit der klassischen Phrase „Das Klima hat sich schon immer geändert“ argumentiert. Es sei alles Hysterie und reine Angstmacherei.

Allen Versuchen gemeinsam ist, dass TikTok sofort speichert, welche Form von Videos wir uns länger ansehen. Wer sich ein Klimaleugner-Video vollständig ansieht, bekommt sofort das Nächste und das Nächste.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass zwischen den beschriebenen Clips immer mal wieder auch Kurzvideos glaubwürdiger Newsanbieter auftauchen.

Unser Fazit lautet: Wer nur auf TikTok unterwegs ist, um sich über die Welt zu informieren, der bewegt sich auf einem schmalen Grad und balanciert zwischen tiefen Löchern der Desinformation, in die man unversehens hinabrutschen kann.

Bildquelle: TikTok | @JoachimAignerMFG

Stephan Gert, Michael Haller

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