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Alle wollen TikTok. Wie kommt das?

Jeder Jugendliche kennt es, fast alle Jugendlichen nutzen es mehrmals täglich: die Social-Media-App TikTok aus China. Höchste Zeit also, die Lehrkräfte über diesen Trend ins Bild zu setzen.

Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass der überwiegende Teil der Jugendlichen auf ihrem Smartphone am liebsten (oder am häufigsten) die App TikTok nutzt? Und vielleicht haben Sie auch beobachtet, was die Jugendlichen dort anschauen: Kurze Videos, meist nur ein paar Sekunden lang, in schrillen Farben mit Hintergrundmusik und Personen, die sich hektisch bewegen, dazu Textzeilen, die sich wie ein Kommentar zu den Bildern lesen: sogenannte Meme. Derzeit kann TikTok in 150 Ländern und 40 Sprachen genutzt werden, laut TikTok tun dies pro Monat eine Milliarde Menschen; die meisten machen dies acht Mal täglich und verbringen damit durchschnittlich 95 Minuten, also mehr als drei Stunden (Quelle: Wallaroommedia). Die höchste Reichweite erzielt die App bei den weiblichen Teenagern. Als Mindestalter nennt TikTok 13 Jahre (wird nicht kontrolliert); Erzieher und Eltern können sich über einen Leitfaden informieren. Manche Pädagogen denken schon darüber nach, ob TikTok auch als flankierendes Online-Lehrmittel oder als Lernhilfe für den Unterrichtsstoff dienen könne. „Edutainment“ lautet der modische Kofferbegriff.

Doch wie funktioniert dieses Medium? Woher kommt es? Wie erklärt sich sein enormer Erfolg?  Und vor allem: Wie wirkt es auf seine Nutzerinnen und Nutzer? Dieser Beitrag soll zu diesen Fragen eine orientierende Übersicht geben.

Aufklärung für den Unterricht: TikTok und die Sozialen Netzwerke

Wie die Social-Media-Apps organisiert sind, wie sie funktionieren und wie sie von den Schülerinnen und Schülern zweckmäßig und verantwortungsbewusst genutzt werden, zeigen unsere Onlinekurse „Mit Sozialen Medien kompetent umgehen“ auf dieser Webseite.

Um einen kurzen Einblick in die Wirkweise von TikTok zu gewinnen, empfehlen wir die Kurzfassung eines Reports, den ARTE produziert hat. Sie ist für Jugendliche (ab ca. 14 Jahre) verständlich formuliert und dauert 2:40 Minuten. Sie ist bis zum 1. März 2024 abrufbar unter diesem Link:
https://www.arte.tv/de/videos/102484-000-A/tiktok-wann-die-app-zur-gefahr-wird/

Gesehen und bewundert werden: Sich auf TikTok mit einem Kurzvideo in einer möglichst extremen Situation zeigen, um dafür möglichst viele Follower zu bekommen, finden viele Jugendliche besonders attraktiv. Manche riskieren dafür auch ihr Leben. International bekannt wurde die Geschichte der zehnjährigen Antonella, die sich selbst strangulierte und dabei mit ihrem Smartphone filmte, bis sie erstickte. „Herausforderung Ohnmacht“ heißt der Nervenkitzel, der vielen Jugendlichen schwere Schädigungen, manchen den Tod brachte. Zahllose Jugendliche leiden an Essstörungen, an Phobien und Minderwertigkeitsgefühlen, weil sie einem angesagten Aussehen nicht genügen. Im Januar 2023 ermahnte die EU-Kommission den chinesischen TikTok-Eigentümer, sich an die in Europa geltenden Rechtsnormen zu halten. EU-Kommissar Thierry Breton: „Es ist nicht hinnehmbar, dass Nutzer hinter scheinbar lustigen und harmlosen Funktionen in Sekundenschnelle auf schädliche, manchmal sogar lebensbedrohliche Inhalte zugreifen können.“ (Quelle: dpa 19.01.2023).

Zwei Seiten derselben Medaille

TikTok geht zurück auf die (auch im Westen) schon vor zehn Jahren beliebte Musikclip-App Musical.ly. Diese wurde vom chinesischen Audio-Konzern ByteDance gekauft und 2016 mit dem in China entwickelten Audio-Programm von „Douyin“ gefüttert. Sein Gründer Zhang Yiming nannte die Fusion der beiden Programme TikTok. Diese App, mit der Audioclips mit eigenen Video-Schnipseln verknüpft werden können, kam 2018 auf den Markt und begeisterte sogleich weltweit die Jugendlichen. Voraussetzung dieses Erfolgs waren die inzwischen leistungsstarken Kameras der IPhones und Smartphones, mit denen jeder, der will, knackige Selfies und Kurzvideos produzieren kann. Und attraktiv war das auf die Handys zugeschnittene, screenfüllende Hochformat. Dem gegenüber waren die damals weltweit verbreiteten Plattformen – Facebook zuerst – noch auf das Querformat der Rechner-Bildschirme in der Erwachsenenwelt ausgerichtet. Von daher traf TikTok das Nutzungsmuster der mit dem Handy heranwachsenden Kinder und Jugendlichen. Seither gibt es dort Spaß und Unterhaltung ohne Ende – so scheint es.

Die Entwickler von TikTok bauten in ihre App auch eine Bildbearbeitung ein, die zur Verschönerung der hochgeladenen Bilder und Videos dient und den Selfies ein bisschen Glamour verleiht. Tolle Musik auswählen, dazu swingen oder tanzen, Quatsch machen und filmen, dann das aufgepeppte Kurzvideo hochladen und ein paar Sprüche dazustellen: Diese spontan und authentisch wirkenden Präsentationen gefielen über alle kulturellen Schranken hinweg den Jugendlichen, zumal die Nutzung nichts kostet, vielmehr indirekt über die Nutzungsdaten bezahlt wird. Bald gab es Milliarden an Kurzvideos auf den Servern von TikTok, die seither in Kategorien eingeteilt und nach Maßgabe der von ihnen ausgelösten Interaktionen (Klickraten, Likes, Kommentare, erneutes Anschauen usw.) hierarchisiert werden.

Für jeden registrierten Nutzer von TikTok gibt es zwei Angebotskategorien:

Zum einen die Seite „Folge ich“, die mir Beiträge von Profilen zeigt, die ich ausgewählt habe. Entweder weil mir der Algorithmus Inhalte dieser Profile zugespielt hat und ich sie markiert habe, oder weil ich sie selbst über die Suchmaske gefunden habe. Es ist ein Podium für Wichtigtuer und Influencer. Manche erreichen viele Millionen Follower und verdienen mit ihren Labels großes Geld; die derzeit Erfolgreichste heißt Charli D’Amelio mit 150 Millionen Followern und laut Forbes mit einem Jahresverdienst (2021) von 17,5 Millionen Dollar. Aber man kann hier auch interessante Biografien entdecken, zum Beispiel die Video-Posts von Khabane Lame mit derzeit 154 Millionen Followern: Der in Italien lebende Senegalese verlor während der Corona-Pandemie seinen Job. Frustriert zog er zu seinen Eltern und produzierte TikTok-Filmchen, mit denen er Bürokraten, unnütze Lifehacks und Wichtigtuer veralbert. Ein anderes Beispiel: die junge Ukrainerin Valeria Shashenok, die im vorigen Jahr aus den von Raketen und Bomben zerstörten Stadtteilen, Häusern und Plätzen viele sarkastisch wirkende Kurzvideos postete. In den Newsmedien wurde sie zur „TikTok-Kriegerin“ (Forbes vom 05.01.2023). Ihre Videos erreichten Millionen Views, eines sogar mehr als 50 Millionen. Der in Deutschland mit Abstand erfolgreichste TikToker Younes Zarou erzielt dieselbe Reichweite.

Zum andern die Seite „Für dich“. Das Besondere: Die TikTok-Algorithmen errechnen das Nutzungsmuster jedes Users und legen automatisch fest, welche Videos auf der „Für dich“-Seite gezeigt werden – nämlich solche Videos, die dem Geschmack, dem Themeninteresse oder der sozialen Einstellung des Users entsprechen. Man ahnt es: Hier bekommt jeder Nutzer „more of the same“: Wer Katzen mag, sieht immer neue Katzenvideos; wer nach Alkohol süchtig ist, bekommt Videos, die das Trinken verherrlichen. Dasselbe Filtermuster gilt für Kochrezepte, politische Überzeugungen, Outfit und sexuelle Orientierung. Und wenn ich zuvor viele Videos der Ukrainerin Valeria gesehen habe, bekomme ich auch auf der „Für dich“-Seite weitere Videos aus dem Krieg gezeigt – oder auch Videos aus dem Iran. Eines zeigt, wie ein uniformierter Mann eine junge Frau auf offener Straße zusammenschlägt und ihr einen Gewehrkolben in den Bauch stößt, bis sie regungslos liegen bleibt. Der TikTok-Algorithmus zeigt mir das nicht, weil er mich für einen Feministen hält, sondern weil ich zuvor Videos über Gewalt, Zerstörungen, Tote und Verletzte in ukrainischen Städten besichtigt habe.

Der Algorithmus beider Seiten funktioniert so, dass die Nutzer so lang wie möglich auf dieser App „hängen“ bleiben und möglichst viele auf sie zugeschnittene (personalisierte) Werbung sehen.

Die große Manipulation

Mit dieser Skizze werden mehrere Probleme erkennbar. Das erste betrifft den Umgang mit den Nutzungsdaten. Der Konzern ByteDance sammelt und bewertet unfassbar viele Daten. Auch der US-amerikanische Meta-Konzern sammelt mit Facebook, Instagram und WhatsApp Nutzungsdaten. Beide Medienkonzerne verwenden Analyseprogramme, um für jeden Nutzer ein tiefgreifendes Profil zu errechnen. Hier wie dort werden auf diese Persönlichkeitsprofile die Videoangebote – Content und Werbung – passgenau ausgerichtet. Doch im Unterschied zum amerikanischen Meta-Konzern sitzt der TikTok-Eigentümer in China. Westliche Geheimdienste vermuten, dass die chinesischen Behörden direkten Zugriff auf die Daten des Konzerns ByteDance haben – was von den Chinesen bestritten wird. Die Möglichkeit jedenfalls ist gegeben. Und da erinnert man sich an das Jahr 2016, als während des US-Wahlkampfs Millionen Profil-Daten von Facebook abgezogen und für die Wahlkampfwerbung von Donald Trump zur personalisierten Ansprache potenzieller Wähler genutzt wurden. Dieses Leck wurde geschlossen. Doch seit ein paar Jahren beobachten Web-Analytiker, wie russische Troll-Fabriken westliche Netze und Plattformen gezielt infiltrieren. Von daher liegt der Gedanke nicht fern, dass auch die chinesische Staatsführung TikTok-Profildaten amerikanischer Bürgerinnen und Bürgern nutzen könnte, um das Wählerverhalten zu beeinflussen oder Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen zu schüren. Tatsächlich hat TikTok seine größte Reichweite in den USA.

Ein ganz anderes Problem entsteht durch die hohe Attraktivität der musikunterlegten Kurzvideos. Um Jugendliche zu erreichen, sind inzwischen auch seriöse Nachrichtenanbieter auf TikTok unterwegs. Zum Beispiel Der Spiegel (als spiegeltv). Seine Mini-Videos dienen als Appetitmacher für größere Geschichten auf Spiegel.tv, für die der Slogan lautet: „Wir schauen da hin, wo andere lieber wegsehen und bohren nach, wo es weh tut.“ Immerhin. Ganz anders macht es die Tagesschau. Sie liefert im TikTok-Format in 45 Sekunden alle angeblich wichtigen „News der Woche“. Wie geht das?

Rund ein Viertel der Jugendlichen gibt an, sich mit TikTok über das aktuelle Geschehen zu informieren. Doch Sie ahnen es: Von den im Stakkato aufgesagten Textfetzen und den Bild-Slidern bleibt in den Köpfen der Jugendlichen kaum etwas hängen; im Gedächtnis zurück bleibt vermutlich das screenfüllende Gif und das Gesicht der Sprecherin, verbunden mit dem Gefühl: Mag ich die oder fand ich sie doof?

Auch die zahllosen Minivideos aus der Ukraine oder aus dem Nahen Osten lassen in den Köpfen der Nutzer nur Mini-Episoden zurück, die aus irgendeiner abseitigen Perspektive einer Handy-Kamera aufgezeichnet worden waren. Vordergründe, Hintergründe, Zusammenhänge, Zuständigkeiten und Verantwortliche? Keine Ahnung, aber egal. Schon sprechen Medienbeobachter von der „TikTokisierung“ der Onlinemedien: Gefällige, softige, coole Minivideos im Hochformat, die den aktuell errechneten Nutzergeschmack der Zielgruppe mit Blabla plus Werbebotschaften bedienen.

Die inszenierte Authentizität

Ich komme damit zum dritten Problem, das dadurch entsteht, dass viele Plattformmedien vom Erfolg von TikTok allzu beeindruckt sind: Sie übernehmen die Visualität von TikTok und werden dadurch mehr und mehr zur Schaubühne für Propagandisten, für professionelle Konsum- und Meinungsverkäufer. Mit großer Kunstfertigkeit verbreiten Polit-Agenturen in Washington, Moskau, in Kiew und anderswo tagtäglich unzählige Botschaften über die Social Media-Apps, die so wirken, als seien sie von netten Amateuren ganz spontan, auch irgendwie cool gemacht. Damit missbrauchen sie das Bedürfnis der Jugendlichen, sich einer Community zugehörig zu fühlen und in dieser authentisch zu kommunizieren. Es ist dieser Sekunden-Mix aus Stimmung, Bewegtbild und Textfetzen, der bei den jugendlichen Nutzern kein neues Wissen, vielmehr das Gefühl erzeugt, mitgenommen zu werden auf eine super abwechslungsreiche Stimmungsreise ins Irgendwohin.

Seit Februar 2022 sind die Plattformen zudem zum Kriegsschauplatz geworden: die Kriegsparteien kämpfen mit ihren Posts und Minivideos um die Deutungshoheit in den Köpfen vor allem der jungen Erwachsenen in den westlichen Gesellschaften, auch in Deutschland. In diesem Medienkrieg erweist sich im Übrigen die ukrainische Regierung als die erfolgreichere: Sie fördert die TikTok-Posts ukrainischer Jugendlicher, die ihre Kriegserlebnisse zeigen. Viele Ukrainer leben – soweit unter dem derzeitigen Kriegsrecht möglich – ihre Meinungsfreiheit aus und sind darin als Informationsquelle für westliche Beobachter glaubwürdiger als das, was aus Russland kommt. Seit März 2022 hat der Kreml ja alle unabhängigen Medien auf den Plattformen verboten oder unter seine Kontrolle (Zensur) gestellt. Auf Instagram und TikTok lässt er nur Posts zu, die seiner Propagandalinie folgen oder die Nutzer mit informationsfreier Unterhaltung ruhig stellen (wer den Krieg „Krieg“ nennt, wird blockiert und bestraft). Das alles ist für die Beobachter des Angriffskrieges ohne Informationswert. Wer indessen die Informations- und Meinungsfreiheit selbst in Kriegszeiten respektiert, der kann die Sozialen Medien auch als „GameChanger“ strategisch einsetzen. So findet man auf den Plattformen und Messengerdiensten der sozialen Medien vor allem Posts von Gruppen und Personen, die sich für die Befreiung ihrer Ukraine einsetzen – ihnen voran die Regierungsmitglieder mit ihren täglich produzierten Botschaften (Beispiel: ukraine.ua auf Instagram mit mehr als eine Million Follower). Dabei werden Wahrheiten, Halbwahrheiten, Behauptungen, Lügen und Gegenlügen wirksam ins Bild gesetzt. Tatsächlich ist die Meinungsfreiheit auch in Kriegszeiten wünschenswerter als die knebelnde Zensur. Doch zuverlässige Nachrichten liefert nur der, der keine Kriegsinteressen verfolgt und darum aus unabhängiger Sicht recherchieren und informieren will. Die Preisfrage lautet: Wer könnte das sein?

 

Michael Haller im Januar 2023

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